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Die Biserpedia – Ausgewählte Begriffe und Texte von Eugen Biser

Wer sich mit den theologischen Neuansätzen Eugen Bisers beschäftigen möchte, sieht sich in der fortlaufend aktualisierten Online-Bibliographie mit über 1.400 Einträgen konfrontiert. Allein die Lektüre seiner über 160 Monographien ist zeitlich kaum zu leisten.
Eine Hilfestellung bietet hier die Biserpedia, die jedem Einsteiger, aber auch jedem Kenner einen Überblick über die wichtigsten Begriffe und Themen bei Eugen Biser gibt. Die Kurztexte sind mit einem Lektürehinweis zur Vertiefung versehen.
Die Biserpedia wurde von Dr. Hannes Bräutigam erstellt.

Kurze These über das Christentum

"Das Christentum ist die Religion des zum personalen Selbst-Sein gelangten Menschen." (Eugen Biser, Theologie der Zukunft 2010, 27)

Problemanalysen

Zur Sinnfrage

Eugen Biser diagnostiziert dem Menschen von heute eine Tendenz zur Selbstvergessenheit, der letztlich zur Entfremdung von ihm selbst führen kann. Gründe liegen in den vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten: die Überbewertung von Prestige, Erfolg, Besitz, die Flucht in digitale Welten. Möglicherweise liegt dem Menschen nicht mehr so viel an ihm selbst, an der Kultivierung seiner eigenen Persönlichkeit, an dem Wissen um den Sinn seines eigenen Lebens, seiner Identität, seiner Aufgabe.

"Wenn in einem Menschenleben nach Ansicht seines Trägers kein Sinn mehr gefunden werden kann, wachsen Lebensüberdruß und Todesbereitschaft in einer Weise an, daß sich der Selbstmord als eine nur schwer zu bekämpfende Lockung nahelegt." (Menschsein in Anfechtung und Widerspruch, 139)

Woher kommen wir, wohin gehen wir, wo ist das verlorene Paradies? Warum existiert so viel Leid, Unglück und Verbrechen? Biser versteht das Abschweifen des Menschen in weniger bedeutsame Bereiche hinein als Sinnkrise des Menschen. Diese Sinnkrise muss aber nicht unmittelbar bewusst sein, sie ist sicherlich offen für Verdrängung und Betäubung, der Mensch erschafft sich Ersatzparadiese. Er ist von innen gedrängt, aber von außen verhindert, immer zwischen Wohlstand und Unwohl-Sein, Einsamkeit und Kommunikationsfülle, Lebensangst trotz umfassender Sicherheitssysteme, Identitätsnot, die ihn zur Sinnsuche treibt. Allgemein durch seine Lebenswelt, die es anscheinend nur darauf anlegt, ihn von sich selbst abzuhalten. Eine Unübersichtlichkeit, die eine verlässliche Orientierung erschwert, eine Funktionalisierung durch Leistungs- und Konsumzwang, die ihn in die Selbstentfremdung treibt, Verfall einer Welt der Werte, schwindende Akzeptanz der Kirchen, Verdrängung der Wahrheitssuche durch das Lustprinzip, Liebe, Angst und Tod werden aus der Denk- und Gefühlswelt gestrichen.

„Der Konsumismus ist vorbei. Wir haben eine Zeit hinter uns, in der die Sache des Menschen verflacht und der Mensch in die Eindimensionalität abgedrängt wurde. Aber aus diesem Zustand erwacht er, vielleicht wegen der augenblicklichen, ökonomisch schwierigen Situation. Die Menschen werden bekanntlich immer dann wach, wenn es ihnen schlecht geht. Gute Zeiten sind nie gut für die Philosophie und für die Theologie. Notzeiten lehren nicht nur beten, sondern lehren auch denken."  (Theologie der Zukunft, 20)

Der Mensch kann sich entscheiden zwischen Verdrängungskünsten und dem elementaren Wissen um seine eigene Verfassung, zwischen Illusion und Suggestion statt Wahrheit und Freiheit. Grenzsituationen stellen den Betroffenen allerdings beinah unausweichlich vor die Frage nach dem Sinn des Daseins. Warum ist die Frage nach dem Sinn seiner Existenz so unbequem oder auch schmerzhaft, dass man ihr aus dem Weg gehen will? Und wer wird oder kann sie beantworten?

Die Frage nach Gott und die Frage nach dem Sinn sind eng miteinander verbunden. Zunächst muss das Interesse an der Frage nach dem Sinn wieder geweckt werden und in der Folge gefragt werden, wer diese Frage am besten beantworten kann. 

Lektürehinweis: Eugen Biser, Theologie der Zukunft, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 19–21.

Zum technischen Fortschrittsglauben

Eugen Biser sieht in der Leugnung Gottes nicht nur die Gefahr, dass der Mensch in aller Einsamkeit und Ungeborgenheit in einer zersplitterten Gesellschaft keinen Halt mehr findet, sondern auch, dass der Welt einige Prädikate zugeschrieben werden, die eigentlich nur Gott zukommen können. Prädikate der Allmacht, Allwissenheit und Gerechtigkeit werden auf die Welt und den Menschen selbst übertragen.

Dadurch wächst der Mensch über sich hinaus. Anhand verschiedener Werkzeuge macht er sich selbst zu einem "Prothesengott", wie Eugen Biser Sigmund Freud zitiert. Nach Freud waren das ursprünglich Prädikate des Menschen, die eine gewisse Zeit an Gott abgetreten wurden. Durch den Tod Gottes konnten sie wieder auf alles Innerweltliche und den Menschen selbst angewandt werden.

Digitale Welten und moderne Nachrichtentechnik ermöglichen es, dass meine Person, im digitalen Zeitalter auch mein Online-Profil, durch die Unabhängigkeit digitaler Welten von den geografischen Orten abgekoppelt ist und daher für jedermann mit einem Online-Zugang allgegenwärtig. Zur Zeit Eugen Bisers war es noch die Erfahrung und der Aufschwung der Raumfahrt, wonach der Mensch nun auch in den Himmel, der in Zeiten der Geozentrik bis in die Antike noch die Sphäre von Göttern war, auffahren konnte. Selbst die Bibel empfindet den Ort Gottes noch als ein "dort oben". Mit der Mondlandung, der Möglichkeit zu Marsreisen und dass künstliche Objekte vom Menschen erschaffen das Weltall erforschen können, [Theologie der Zukunft, 18f.]bekommt der Mensch immer mehr Anteil an göttlicher Allgegenwart. In einem Atomreaktor finden kontrolliert bereits die gleichen Prozesse statt wie im Innern der Sterne – Sterne waren früher ebenfalls Teil einer göttlichen Sphäre. Der Mensch bemächtigt sich des Alls, wird so all-gegenwärtig. So befindet sich der Mensch auf den schöpferischen Spuren seines einstigen Schöpfers.

„Während der utopische Gang des Zeitgeschehens buchstäblich die Sterne der größten Traumziele vom Himmel holte, entgleiten immer größere Bereiche dem beherrschenden, gestaltendem und ordnenden Zugriff. Das tradierte und unablässig eingeschärfte Ethos verlor seine regulierende Kraft. Staat und Kirchen sind längst nicht mehr die alles bestimmenden 'Ordnungsmächte'." (Gotteskindschaft, 31)

Durch Kenntnisse von Evolution und Gentechnik besteht die Gefahr, dass der Mensch sich selbst produzieren, erschaffen kann. Eines Tages wird es möglich, dass intelligente Maschinen oder organische Wesen "erschaffen" werden, bei denen es immer schwieriger fallen mag, einen Unterschied zum Menschsein und Personsein auszumachen. Er hat aufgehört, Geschöpf Gottes zu sein und wir zu seinem eigenen Erzeugnis.

Aber nimmt man die göttlichen Prädikate der Allgegenwart, Allmacht und Schöpferkraft, die sich der Mensch und der Welt selbst zugeschrieben hat, genauer unter die Lupe, werden die Grenzen dieser Prädikate deutlich. Sie sind genauso wie die Welt ebenfalls begrenzt. Wenn die Technik versagt, wird deutlich, dass alles in der Welt doch letztlich vergänglich ist und durch die Naturgesetze begrenzt wird. Eine Allgegenwart, die auf Technik beruht, ist nur Illusion. 

Neben dem Phänomen, dass der Mensch göttliche Prädikate nun innerweltlichen Dingen zu schreibt, verwischt sich auch immer mehr die Grenze zwischen dem Menschen selbst und den Dingen, die ihn umgeben. Der Mensch kann sich selbst als Instrument begreifen und nicht mehr als Person, was eigentlich als die größte Errungenschaft des Christentums gilt. Der Mensch kann zur Terrorbombe werden, einer Waffe, ein Ding. Aus dieser Menschenvergessenheit rührt gleichzeitig eine Gottvergessenheit. Gott scheint nicht mehr notwendig zu werden.

Die Situation heute ist, dass sich der technische Fortschritt schneller entwickelt als der ethische und der anthropologische. Aber die Möglichkeit zum Missbrauch darf den Gebrauch der Errungenschaften nicht verbieten. Die moderne Hochtechnik zeigt jedoch, dass uralte Utopien und Traumziele des Menschen doch nicht unerreichbar sein müssen. Was bisher als unmöglich galt, wird nun Schritt für Schritt verwirklicht. Wo genau die Grenzen zwischen der Rolle von Technik als Fortschritt und als Missbrauch jeweils in aktuellen Debatten zu ziehen sind, ist auf dieser prinzipiellen Ebene der Überlegungen schwer konkret möglich. Wichtig ist, die Grenzen technischer Möglichkeiten zu realisieren, um ihnen nicht Erwartungshaltungen entgegen zu bringen, die eigentlich nur von Gott erfüllt werden können.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Gotteskindschaft, Darmstadt 2007, 29-31.

Zur Rolle der Massenmedien

Technik und Massenmedien tragen dazu bei, dass sich gesellschaftliche Strukturen hermetisch abschließen gegenüber der transzendentalen Verwiesenheit des Menschen. Das erkennt man daran, dass sich der moderne Mensch weigert, an die Grenze seines Denkens zu gehen und dort eine Ahnung von dem zu erlangen, was jenseits dieser Grenze liegen könnte. Biser erkennt im Menschen eine "utopische" Strukturiertheit, die genau dann in ihr Gegenteil umgewandelt wird, wenn sie rein innerweltlich adressiert wird, sie also auf innerweltliche Erfüllungsmechanismen reduziert wird. Darin zeigt sich ein nicht nur ideologisch bedingter, sondern ein struktureller, aus der Tiefe des Zeitgeschehens aufsteigender Atheismus. 

Diese Medien schaffen es, das Verlangen nach "Primärerfahrungen" des Menschen zu unterdrücken und ihn auf eine Stufe einer "prärationalen Bildlogik" zurückzuwerfen, die äußerst effizient einen konsumgerechten Menschen erschaffen kann. Aus dem umgeleiteten Verlangen nach eher unbedeuteten Konsumerfüllungen verliert und betäubt der Mensch das eigentliche Ziel seines Verlangens, ein "personales Selbst-Sein". Biser versteht darunter die Voraussetzung für Religion und Glaube.

Trotz ihres Informations- und Unterhaltungsangebots arbeiten die Medien auf einen Abbau der Persönlichkeitskultur hin, in letzter Konsequenz auf die "Liquidierung des selbstverantwortlichen Subjekts". (Glaubenserweckung, 215)

„Gleichzeitig wecken die audiovisuellen Medien durch das Angebot einer surrogathafen Bilderwelt die 'Augenlust', in der schon der erste Johannesbrief eine elementare Gefährdung des Glaubens erblickte (2,16). Dadurch fixieren sie den Rezipienten in der ihm durch die Leistungs- und Konsumgesellschaft ohnehin aufgenötigten Extravertiertheit, die seinen 'inneren Menschen' verkümmern läßt." (Glaubenserweckung, 215)

Demgegenüber geht es Biser um die Wiederherstellung einer Innerlichkeitsdimension entgegen einer sich in den sozialen Strukturen verfestigenden Verfehlung der Existenz als Möglichkeitswesen. Der Mensch hat sein Elementarvertrauen in seine Existenz und seine Umwelt verloren und begnügt sich damit, mithilfe von Ersatzparadiesen den eigentlichen Fragen und Antwortmöglichkeiten aus dem Weg zu gehen. Dabei bleibt das Bewusstsein auf der Strecke, dass die elementaren sittlichen Werte, die in einer atheistischen Gesellschaft herangezogen werden, auf christliche Quellen zurückgeführt werden können, jene das aber konsequenterweise leugnen muss. 

Lektürehinweis: Eugen Biser, Glaubenserweckung, Düsseldorf 2000, 214–216.

Zu Antwortmöglichkeiten auf die Sinnfrage

Aus dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit gegenüber der Welt und sich selbst kann schnell Sinnlosigkeit, Resignation und Verzweiflung resultieren, wenn es jenseits der Endlichkeit keinen Horizont mehr gibt, der Hoffnung und Zuversicht in Aussicht stellen kann.

Die menschliche Vernunft sieht Biser nur bedingt fähig an, die Sinnfrage zu beantworten und mit Furcht umzugehen. Mit der Vernunft lassen sich viele Welträtsel lösen. Aber der Mensch ist im Bezug auf die Frage nach seiner eigenen Existenz und in seinem Zustand der (verdrängten) Ängste auf Hilfe angewiesen. Die Weltreligionen können sich als Schicksalsgemeinschaft verstehen, deren Mitglieder sich dieser Frage annehmen. Es besteht der Glaube und die Hoffnung, dass Gott dem Menschen in seiner Ratlosigkeit zu Hilfe kommt, sich ihm zu verstehen gibt und mitteilt. 

„Wen die Zuversicht, von Gott geliebt, umsorgt, beschirmt und getragen zu sein, erfüllt, hat keinen Anlaß mehr, nach einem 'Sinn' dieses Lebens Ausschau zu halten, weil ihm die Frage danach durch das, was die theologische Sprache 'Vorsehung' nennt, immer schon abgenommen ist. In ihr ist das Sinnproblem, bevor es sich stellt, auf eine zwar nicht rational nachvollziehbare, dafür aber unmittelbar erfahrbare Weise gelöst." (Menschsein in Anfechtung und Widerspruch, 144)

Der christliche Glaube ist fähig, eine Antwort auf die Orientierungs- und Sinnfrage zu bieten, die sich nicht vom Lärm der Vergnügungsindustrie, vom Illusionseffekt der Medien und der Desorientierung der Postmoderne in die Knie zwingen lässt. Er versteht den Glauben nicht als Pflicht, sondern als Vergünstigung, nicht als Leistung, sondern als einen kreativen Aufbruch, nicht als Festhalten, sondern als ein Befestigt-werden, als etwas, das einem Halt gibt. Damit dies möglich werden kann, ist Hoffnung vonnöten. Da dies nicht allein geleistet werden kann, ist die Hoffnung vonnöten, dass der eigentlich Wirkende der ist, an den man sich vertrauensvoll hinwendet, Christus selbst.

All die einzelnen Sorgen und Ängste lassen sich für Biser auf eine Grundangst zurückführen, die Angst vor dem Tod. Die Überzeugung, dass durch die Auferstehung Jesu in die Herzen der Seinen die tiefste aller Ängste überwunden und die Frage nach dem Sinn erfüllend beantwortet werden kann, ist in dem Sog der Nebenschauplätze in Gesellschaft und Christentum viel zu lange untergegangen. 

Lektürehinweis: Eugen Biser, Die Entdeckung des Christentums Freiburg u.a. 2001, 30–38.

Hintergründe der Glaubenskrisen

Wende von Menschheitsgeschichte zu Heilsgeschichte

Platon und Aristoteles zählen als die bedeutendsten Philosophen der Antike. Beide erarbeiteten philosophische Systeme, ganze Weltanschauungen, innerhalb derer sie die ganze Welt erklären konnten – ein abgeschlossenes System. Sie lebten in etwa 5.-4. Jahrhundert vor Christus. Das Ereignis allerdings, nach dem sich die Kalenderzählung reformierte, war ein anderes: die Geburt Jesu (plusminus ein paar Jahre). Es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis das Neuartige, das unerhört Revolutionäre, wie die Ereignisse rund um Leben und Tod von Jesus damals wahrgenommen wurden, derart als erhellend für das Verständnis vom Menschen selbst und von der ganzen Welt von Anfang bis Ende verstanden wurde, dass man der Überzeugung war, das Christusereignis könne nur einen göttlichen Ursprung haben. Das ist von einer bis dato noch nie erfahrenen Qualität, so dass man es weitererzählen und tradieren musste.

Es wurde verstanden als das erlösende und befreiende Ereignis, durch das der Mensch es schaffen kann, seine Sehnsüchte und Ängste in den Griff zu bekommen und zu überwinden und so zu einem erfülltem Menschsein zu gelangen. Das Verständnis von Zeit und Geschichte war in der Antike eher zyklisch geprägt, d.h. die Welt- und Menschheitsgeschichte dreht sich mehr oder weniger im Kreis, vieles, wenn nicht alles, wiederholt sich irgendwann. Durch Christus wurde nun deutlich, dass die Menschheitsgeschichte durchaus auf ein Ziel hin zuläuft, das Sinn und Hoffnung verspricht. Alles, was hier angefangen hat, findet irgendwann seine Vollendung.

Diese Hoffnung ist auch der Grund dafür, dass die Christen ihre eigene Geschichte nicht nur als neutralen Ablauf von Ereignissen verstehen, sondern positiv als Heilsgeschichte interpretieren. Tritt nun dieses hoffnungsspendende Ereignis ein, dann wäre es innerhalb einer Gemeinschaft sogar ein Versäumnis, wenn man dieses Ereignis für sich behalten und nicht den Gemeinschaftsmitgliedern weitergeben würde.

Paulus-Mission

Gerade Paulus hat sich um die Verbreitung dieser Botschaft verdient gemacht. Er traf auf die eingangs erwähnten philosophischen Systeme der griechischen Antike, die mit den christlichen Gottesvorstellungen erstmal weniger zu tun hatten. Es war ein abgeschlossenes System einer philosophischen Weltdeutung, das erstmal keinen Platz für etwas Neues, Revolutionäres zu bieten schien. Gerade Platon machte es ihm schwer, denn dieser teilte die Welt in einen Bereich der Ideen, die ewig und unveränderlich wahr sind, und einen Bereich der Welt, in dem alles vergänglich ist und im Vergleich zur Ideenwelt abgewertet wird. Von dieser Teilung blieb auch der Mensch nicht verschont: Im Laufe der Verknüpfung von antiker Philosophie und christlicher theologie wurde er in Seele und Körper geteilt, die Seele war gut, der Körper vergänglich, daher weniger wert.

Die Aufgabe der Verkündigung stellte Paulus nun vor ein gewisses Dilemma, denn er wollte ein Ereignis und eine Person verkünden und nicht ein System, das sich mit dem griechischen irgendwie arrangieren könnte. Dennoch war er von seiner Botschaft derart überzeugt und in seiner Verkündigung erfolgreich, dass später der Glaube an Christus in den römisch und griechisch dominierten Gebieten als erlaubter Glaube galt. Das ging allerdings nicht ohne gewisse Zugeständnisse einher, die für die weitere Entwicklung der Kirche fatale Folgen haben sollte.

Dualistische Strukturbildung

Es gab ja durchaus christlich geprägte Gemeinden, die nach jüdischem Vorbild Strukturen ausgebildet haben, die aus mehreren Gremien und Ämtern bestanden. Ein Rat von Ältesten einer Gemeinde, Bischofsämter und Helfer und Diener, die ebenfalls schon als Amtsträger verstanden wurden. In der Anpassung an griechisch-römische Strukturen allerdings setzte sich die Zweiteilung, die ihre Wurzeln bei Platon hatte, durch, so dass in weiteren Jahrhunderten und gar Jahrtausenden es in der Kirche ebenfalls eine Teilung in einen geistigen Bereich und einen weltlichen Bereich gab, einen Bereich der Priester, Bischöfe und des Papstes und einen Bereich der Laien, des einfachen Volkes.

Dazwischen gab es eine Trennlinie, und die Kommunikation verlief auch sehr einseitig von oben nach unten. Selbst die Zweiteilung, die Platon am Menschen vorgenommen hatte, setzte sich in der Verkündigung der kirchlichen Lehre von oben nach unten durch. Der Geist oder die Seele ist gut, der Körper schlecht. Alles Geistige ist wahr und unveränderlich, alles Körperliche vergänglich und negativ. Wie fatal sich das auf die jeweiligen Vorstellungen im Bereich zwischenmenschlicher Liebe und Sexualität auswirken kann, davon zehren ja noch heute viele Kirchenkritiker teils zurecht.

Erforderliche Glaubenswenden

Umkehr der Fehlentwicklungen

Gegen diese lang währenden Fehlentwicklungen der Systemisierung, Entpersonalisierung und der Einteilung in dualistische Denkformen – immerhin handelt es sich fast um zwei Jahrtausende – wehrt sich Eugen Biser mit aller Entschiedenheit. Er sagt, dass die derzeitige Kirchenstruktur, für die es mittlerweile schon für viele Jugendliche keinen Unterschied mehr macht, ob sie denn existiert oder nicht, keineswegs unveränderlich oder gar von Gott eingesetzt sein muss. Biser tritt dafür ein, dass nicht ein System und dessen innere Strukturen der Ursprung des christlichen Glaubens ist, sondern die Person Jesus Christus und ihre Bedeutung für den Menschen und seine Gottesbeziehung.

„Es gehört zu den ganz großen Kulturleistungen des Christentums, daß es den Menschen in dieser seinen Besonderung, in seiner Unverwechselbarkeit und Unvertretbarkeit herausgestellt und ins Bewußtsein der Welt getragen hat. (Mensch und Spiritualität, 24)

So verdienstvoll und erfolgreich die Paulus-Mission war, in Konfrontation mit dem platonischen geteilten Weltsystem hatte es fatale Folgen. Aus diesem Grunde müssen mehrere Wenden im christlichen Glaubensverständnis eingeleitet werden. 

Lektürehinweis zu den Glaubenskrisen: Eugen Biser, Mensch und Spiritualität, Darmstadt 2007, 21–30.

Vom Autoritäts- und Gehorsamsglauben zum Verstehensglauben

Bisers These ist, dass der Glaube in die Krise geraten ist, weil er anachronistisch verstanden wird. Die meisten sehen ihn als Glaube des Ersten Vatikanums, Glaube bedeutet die gehorsame Unterwerfung unter die Gottesautorität. Autoritäten werden heute aber nicht mehr unhinterfragt und unbegründet akzeptiert. Was akzeptiert wird, muss zuerst verstanden worden sein. Hier kommt die Glaubenswende vom Autoritätsglauben zum Verstehensglauben. Es kann nicht im Sinne eines Schöpfers sein, der den Menschen in Freiheit, Einmaligkeit und Personalität erschaffen hat, dass er sich wie eine Marionette blind gehorcht und seine Fähigkeiten weder einsetzen noch entwickeln darf. Gott will verstanden werden, dafür teilte er sich selbst als seinen eingeborenen Sohn mit. Gott hat den Menschen als denkendes Wesen erschaffen und spricht ihn daher immer als denkendes Wesen an. 

Eugen Biser unterscheidet mit Bezug auf Hans-Georg Gadamer zwischen einer Autorität, die Politiker einfordern, und zwischen einer Autorität, mit der Lehrer ihr Wissen "opfern", es an die Schüler weitergeben und sich so ihre Autorität verdienen, indem sie von ihren Schülern verstanden werden. Im ersten Fall geht es um eine Autorität, die nur auf den eigenen Machterhalt aus ist. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Autorität, die auf Verstehen aus ist und auf Respekt basiert.

„Danach besteht die primoridale Autorität, wie sie Personen zukommt, entgegen dem weit verbreiteten Vorurteil gerade nicht in der Überlegenheit dessen, der auf legitime oder gewaltsame Weise 'an die Macht' gelangte, sondern in dem geistigen Vorsprung dessen, der, sei es aus überlegener Einsicht oder Erfahrung, 'etwas zu sagen hat'. Autorität ist ist somit primär ein, wenn nicht sogar das Vehikel des Verstehens." (Die glaubensgeschichtliche Wende, 196)

Wenn sich Gott offenbart, Gott also zu den Menschen sprechen will über etwas, was der Mensch aus sich heraus nie hätte erkennen können, dann liegt nahe, dass Gott seine Botschaft auch verstanden haben will. Gott als ein liebender sich selbst verschenkender Vater, der jede Distanz überbrücken will, ist nicht verträglich mit einem Machthaber, der aufgrund göttlicher Autorität zum blinden, roboterhaften Nachplappern von Lehrsätzen, die als wahre Offenbarung Gottes verstanden wurden, aufruft und im Gegenzug Erlösung und Rettung verspricht. Ein liebender Vater erschafft keine Geschöpfe, die mit Vernunft ausgestattet sind, um ihnen dann vorzuschreiben, was sie zu glauben und zu denken haben. Entgegengebrachtes Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe ist nur wertvoll, wenn es aus freien Stücken geschieht und nicht erzwungen wird. Seine Botschaft will aus freiheitlichem Bestreben verstanden werden. Nur so kann sich das "Wunder des Verstehens" ereignen.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Die glaubensgeschichtliche Wende, 2. Aufl., Freiburg u.a. 1987, 193-199.

 

Vom Satz- und Bekenntnisglauben zum Erfahrungsglauben

Ein System von Lehrmeinungen, dem man zustimmt oder auch nicht, ist nicht mehr sehr erfolgreich und attraktiv. Es setzt eine Autorität voraus, die den Menschen fremdbestimmt. Nicht nur der Mensch, auch die Kirche ist teilweise von Angstzuständen betroffen, die dazu führen, dass man sich auf feste, unabänderliche Positionen zurückzieht und diese autoritär vertritt. Glaube wurde dann verstanden als das Fürwahrhalten von Sätzen.

Die insbesondere von Martin Buber vorgetragene Kritik liegt darin, über die Korrektheit von Glaubenssätzen deren Inhalt verloren zu haben, der in der Erfahrung des Geglaubten (also Jesus Christus) besteht. Die Rückbindung an das ursprüngliche Ereignis, von dem das Christentum überhaupt ausgeht, wird unrechtmäßig gelockert durch die Errichtung eines Lehrsystems aus wahren Sätzen. Dass das heutzutage nicht mehr attraktiv sein kann in dem Reigen verschiedener Religions- und Spiritualangebote, ist unübersehbar.

Dieser Missstand, der für die Unattraktivität des christlichen Glaubens sorgt, ist, wie Biser deutlich macht, nicht im Wesen des Christentums verortbar, im Gegenteil, es widerspricht ihm sogar. Der Zwang zu einem Bekenntnis gilt als Fehlentwicklung auch in der Geschichte der Kirche. Früher galt die Institution Kirche als unhinterfragbare Garantie für das göttliche Heil. Damit waren nun zwei Probleme verbunden: Erstens wurde das einzelne Individuum abgewertet, weil seine Meinung im schlimmsten Fall gar keine Rolle mehr gespielt hat. Zweitens hat sich die Kirche den Anspruch auf das Heil einverleibt und verfügt damit über ein Gut, das eigentlich nur einzig und allein von Gott ausgehen kann, weil von ihm das Heil kommt, nicht von der Kirche. Das vermittelt das Gefühl, dass nur die geheilt, gerettet werden können, die sich in die Kirche eingliedern. Damit hat die Kirche Angst und Schrecken verbreitet.

Biser dreht diese Entwicklungen wieder um, wendet sich an das Individuum und versucht, den Menschen und seinen Platz in der Welt zu verstehen, um die Botschaft des Christentums verständlich machen zu können. Nicht die Kirche besitzt die entscheidende Handlungsvollmacht, sondern das Entscheidende ist allein das Handeln Gottes. Gott ist nicht mit Kirche und Begriffen identisch. Dieses göttliche Handeln vollzieht sich in der Geschichte der Menschheit und ist dadurch mit allen Unvollkommenheiten, die eben geschichtliche Prozesse ausmachen, konfrontiert. Auch hier wird wieder deutlich, was Biser mit der Forderung vom System zur Person meint: Es geht um den Menschen, der in seiner Geschichte mit dem Handeln Gottes interagiert und nicht um ein von allen Abhängigkeiten losgelöstes System von Glaubenswahrheiten. Das steht hinter der Vorstellung, dass die Geschichte des Menschen eigentlich eine Geschichte des Heils darstellt, Heilsgeschichte. Und dieser Prozess ist wie jeder andere geschichtliche Prozess offen für weitere Entwicklungen, kein geschlossenes System. Der wirkliche Glaube ist eine Verankerung in der Gotteswirklichkeit. Daher definiert sich das Wesen des christlichen Glaubens nicht als Für-Wahr-halten von Sätzen, sondern als die Möglichkeit, die Gotteswirklichkeit erfahren zu können.

„Aus ganz unterschiedlichen Gründen, unter denen inner- und kontroverstheologische Interessen eine dominierende Rolle spielten, trat das Moment der formalen 'Richtigkeit', als das der Orthodoxie, in einer Weise in den Vordergrund, daß die auf Kontingenzbewältigung gerichtete 'Orthopraxie' fast ganz aus dem Blickfeld verschwand. (Die glaubensgeschichtliche Wende, 192)

Aber in welcher Wirklichkeit steht denn nun der Mensch und was berührt ihn, worauf ist er auf der Suche? All das, was im Christentum unter dem schwierigen Begriff der "Offenbarung" zusammengefasst wird, muss nach Biser so formuliert werden können, dass es den Menschen in seiner derzeitigen Lebenssituation auch erreichen und für ihn wertvoll werden kann. Es muss immer um die Person gehen, für die nur etwas von Bedeutung sein kann, wenn sie es auch versteht - das Wunder des Verstehens; nur so kann aus Freiheit zugestimmt werden, etwas oder jemand bedeutsam werden. Der heutige Mensch will angesprochen werden, gefragt werden nach dem Grad seines Verständnisses, ernstgenommen werden mit seinen Problemen, er will etwas erfahren und erleben.Lektürehinweis:

Eugen Biser, Die glaubensgeschichtliche Wende, 2. Aufl., Freiburg u.a. 1987, 185-193.

 

Vom Leistungsglauben zum Verantwortungsglauben

Glaube wurde früher als religiöse Leistung verstanden, wofür man von Gott die entsprechende Gegenleistung erhoffte. Aber zwischen Mensch und Gott besteht keine Handelsbeziehung. Früher hieß es: Rette deine Seele. Dass es auch noch andere Seelen zu retten gäbe, das wurde ausgeblendet. Der Glaube war ein Instrument, mit dem man etwas leisten konnte, das darin bestand, sich das Heil zu verdienen.

Romano Guardini hat formuliert, dass keiner weiß, wieweit sein Glaube vom Glauben anderer mitgetragen wird, und wieweit er mit seinem Glauben den der anderen mittragen kann. Der Glaubende ist denen verpflichtet, die ihm zum Glauben verhelfen, wie auch denen, deren Glauben er selbst mit trägt. Glaube kann daher keine Leistung sein, weil man gar nicht abschätzen kann, wie viel man selbst und auch die anderen an Leistung aufbringt. Wichtig ist nur das Bewusstsein, dass man seinen eigenen Glauben verantworten muss und den Glauben der anderen mittragen kann, was selbst wiederum Verantwortung mit sich bringt.

"Das spricht dafür, daß die glaubensgeschichtliche Entwicklung der Konstituierung eines kollektiven Glaubenssubjekts entgegenstrebt, wie es dem Vollbegriff der Gotteskindschaft entspricht." (Gotteskindschaft, 48)

Ein Mystiker steht gern im Verdacht, nur auf sein eigenes Heil bedacht zu sein. Demgegenüber steht die Gemeinschaft aller Glaubenden im Vordergrund, die Gemeinschaft ist das eigentliche Glaubenssubjekt, in Glaube, Hoffnung und Liebe untereinander verbunden. Keiner ist für sich allein, sondern steht für den anderen mit ein. Es geht um die Konstituierung eines kollektiven Glaubenssubjekts.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Gotteskindschaft, Darmstadt 2007, 46-48.

Vom Gegenstands- zum Innerlichkeits- und Identitätsglauben

Entscheidend in der Gegenwart ist besonders diese vierte Dimension der Glaubenswende, die auch den anderen zugrunde liegt und in sich aufnimmt. Sie leitet dazu an, die im Glauben begriffenen Gegenstände zu verinnerlichen.

Das Wesen dieser Wende besteht darin, dass sich der Geglaubte Christus selbst in den eigenen Vollzug des Glaubens einmischt. Dann ist es möglich, dass man sich selbst ein Stück weit zurücknimmt, um für Christus Raum zu geben.

Paradoxerweise resultiert gerade der Tausch der eigenen Identität, also die Zurücknahme der eigenen Person, mit der Identität des Auferstandenen darin, die eigene Identität zu erkennen und Orientierung zu gewinnen. Identitätsfindung geht hier nicht über den Weg der Abgrenzung und Unterscheidung, sondern über den Weg der Hingabe und Übereignung. Dieses Ziel ist erreicht, wenn man mit Paulus sagen kann, dass "ich lebe, doch nicht ich – Christus lebt in mir." (Gal 2,20)

"Entscheidend für das Glaubensbewusstsein der Gegenwart ist jedoch die vierte [Wende], die sich auf die Verinnerlichung der im Glauben ergriffenen Gegenstände bezieht. Sie hat ihren Drehpunkt darin, dass sich der Geglaubte selbst in den Glaubensvollzug einmischt und ihn in mystischer Interaktion mit dem Glaubenden zum Ziel führt." (Der obdachlose Gott 2005, 92)

Ein Vorbild findet man im Kreuzesereignis selbst, als sich Jesus im Todesschrei ganz dem Vater überantwortet und dadurch in seine Lebensfülle aufgenommen wird. Dadurch, dass Christus durch die Auferstehung aus den irdischen Raum- und Zeitvorstellungen entrissen und in die göttliche Ewigkeit aufgenommen wurde, wurde es ermöglicht, dass er nun zu jeder Zeit und in jeder Person zum lebendigmachenden Geist werden kann, der die Seinen erfüllt, beseelt und inspiriert. Wenn sich jeder Gläubige an Christus übereignet, führt das auch zur Identitätsfindung der gesamten Christenheit, da die eine Person, an die man sich übereignet, in jedem Christen dieselbe ist, Christus selbst.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Der obdachlose Gott, Freiburg u.a. 2005, 92f.

 

Zum Begriff der Modalanthropologie

Biser verwendet den Begriff der Modalanthropologie. Dieser bezeichnet eine bestimmte Art und Weise, wie Eugen Biser das Menschsein auffasst. Bei allen festgelegten Grenzen hat der Mensch dennoch einen gewissen Spielraum an Möglichkeiten, in dem er sich entwickeln kann. Er ist nicht festgelegt wie ein Tier oder eine Pflanze, sondern ist eine dynamische Größe. Die modalen Hilfszeitwörter prägen dieses Verständnis vom Menschen: können, dürfen, sollen. Die eine Richtung ist die Entwicklung von einer Person zu einer Persönlichkeit. Der Mensch kann sich über seine faktischen Gegebenheiten erheben. Er kann die Möglichkeiten erkennen, die in ihm schlummern und freigesetzt werden sollen. Dieser Entwicklungsschritt ist so grundlegend, dass er als Entwicklung einer eigenen Persönlichkeitskultur auch allen anderen Kulturen (Literatur, Kunst, Musik) zugrunde liegt. Diese Kulturen können nur das ausdrücken, was zuerst in der Persönlichkeitskultur entwickelt worden ist. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Zustand der Gotteskindschaft. Es handelt sich um einen utopischen Begriff vom Menschsein, das nicht eine faktische Verfasstheit begreift, sondern ihn auf seine höchsten, nur noch religiös begründenden Möglichkeiten hin anvisiert.

Die Gegenrichtung führt in die Niederungen des Tierischen. Das bezeichnet Selbstaufgabe und Selbstzerstörung, eine bis ins Innerste gehende Manipulation, die unterste Grenze des Menschseins. Ein dramatisches Beispiel ist hier die Umfunktionalisierung des Menschen zu einer lebenden Bombe, einer Fernstreckenrakete. Als Kronzeuge für diesen Gedanken der Modalanthropologie dient hier Pico della Mirandola, der das Bibelwort der Frage Gottes an den Menschen "Wo bist du?" ausgedeutet hat. Wo im Reigen seiner Möglichkeiten verortet sich der Mensch selbst? Das ist grundsätzlich eine andere Frage als die klassische Frage nach dem Menschen, wie sie im Laufe der Philosophiegeschichte ausgehend von der griechischen Antike gestellt wurde: "Was ist der Mensch?" Die Frage nach dem "Was" impliziert, dass nach etwas statischem gefragt wird, nach einem grundlegendem, unveränderlichen Wesen des Menschen. So wie sie aber Eugen Biser aufgreift, lautet sie: "Wo ist der Mensch?"

„Mit dieser Wo-Frage ist, trotz ihrer scheinbaren Beiläufigkeit, Wesentlicheres am Menschen erfragt, als die klassische Was-Frage jemals auszuloten vermochte. Und doch ist sie keinesfalls der Zauberstab, der die aufgezeigten Probleme mit einem Schlag zum Verschwinden bringt. Nur eines ist zu erhoffen, daß sie [...] Kräfte mobilisiert, die zur Bewältigung der dem Menschen mit sich selbst gestellten Aufgabe verhelfen. (Menschsein in Anfechtung und Widerspruch, 21)

Der Vorteil dieser Fragestellung liegt darin, dass die Geschichtlichkeit des Menschen in den Vordergrund rückt. Der Mensch durchlebt einen Teil der Weltgeschichte und hat daher auch mit sich selbst durch die Entwicklungen in seinem eigenen Leben eine Geschichte mit sich selbst. Wenn man diese Geschichte nun mit christlichen Vorzeichen interpretiert, dann kann man die eigene Geschichte auch als Heilsgeschichte verstehen. Je nachdem, wie der Mensch seine Möglichkeiten im positiven Sinne umsetzen kann, umso mehr kann er sich auch als Teil der Heilsgeschichte verstehen. Seine Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung sind Teil seines eigenen Heils.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Theologie der Zukunft, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 48-50.

 

Rückbesinnung auf die Mitte des Christentums

Zur Gottesentdeckung Jesu - Zitat

"Befangen in einer Welt von Angst, Haß und Gewalt, hat die alte Theologie trotz erstaunlicher Lichtblicke nie völlig mit dem von Jesus entdeckten Gott der bedingungslosen Liebe, der nach dem Zentralwort der lukanischen Bergpredigt seine Güte sogar den Undankbaren und Bösen erweist, gleichgezogen. Dieser Rückstand muß heute unbedingt aufgeholt werden - das Hauptziel der Neuen Theologie." (Theologie der Zukunft, Darmstadt 2010, 25)

These vom Gott der vorbehaltlosen Liebe

Eines der Hauptprobleme, die für die zunehmende Irrelevanz des christlichen Glaubens führen, sieht Eugen Biser in einem ambivalenten Gottesbild. Damit ist gemeint, dass die Menschen einen Gott vor Augen haben, der gleichermaßen zwischen Drohung, Strafe, Rache und Willkür einerseits und Liebe und Barmherzigkeit andererseits schwankt. Das liegt vor allem daran, dass der Mensch aus der Beobachtung der Weltgeschichte und seiner eigenen Lebensgeschichte heraus nur zu einem ambivalenten Verständnis kommen kann. Der Mensch macht die Erfahrung von Krieg, Streit und Verbrechen und andererseits Frieden und Zusammenhalt. Ebenso ist er selbst gespalten durch die Erfahrungen von Leere, Einsamkeit, Leid und Tod, aber andererseits auch durch Glück, Liebe, Geborgenheit und Selbstlosigkeit. Wenn der Mensch nun von seinen eigenen Erfahrungen heraus ein Gottesbild entwirft, ist es nicht verwunderlich, dass dieses Gottesbild auch dieser eigenen Zerrissenheit entspricht.

Diese Entwicklung wird auch im Gottesbild des jüdischen Glaubens deutlich. Zur Großleistung des Judentums gehört es, Gott als Person zu verstehen, die einzig ist, als ein Gott, der sich mitteilt, mit dem man reden kann, zu ihm beten und verehren kann. Das war eine ungeheure Innovation, allerdings ist diese Innovation auf halbem Wege stehen geblieben. Dieser Gott ist ambivalent, ein gütiger Vater und hilfreicher Betreuer seiner Geschöpfe, andererseits auch ein unbarmherziger Richter, der seine Geschöpfe bei Verstößen gegen seine Gebote in die Hölle stürzen konnte.

Für Jesus war das keine Gottesvorstellung, mit der man ins Reine kommen konnte, denn immer wenn sich Gott als der Barmherzige zeigte, musste man fürchten, dass man eines Tages auch mit seiner unbarmherzigen Seite konfrontiert werden konnte. Es gibt auch in heutiger Theologie immer noch Aspekte eines Gottesbildes, das auf angstverbreitende Disziplinierung des Menschen aus ist. Angsterfüllende Missstände sind all das, was Ungeborgenheit auslöst . Angst vor Terror, Verschwinden der Privatsphäre etc... Das lässt einen Menschen nicht zur Ruhe kommen.

"Die Großtat Jesu besteht dann darin, daß er den zwischen Trost und Schrecken oszillierenden Gott durch den Gott der bedingungslosen Liebe überwunden hat. Genau das wird durch das 'Abba' artikuliert, genau das verbirgt sich hinter dieser Anrede." (Mensch und Spiritualität, 104)

Diese Beziehung ist nur möglich, wenn sich Gott als einer offenbart und mitteilt, der auch die geringsten Anzeichen von Furcht, Drohung, Rache und Schrecken überwunden hat.
Nur so kann Gott zum Ziel der Hoffnung auf Erfüllung der Sehnsucht des Menschen nach innerer Ruhe und Frieden werden. Das Hauptziel der "Neuen Theologie" ist es, dass auch theologisch, kirchlich und pastoral der ambivalente Gott überwunden wird und an seine Stelle der Gott Jesu tritt, der seine Güte sogar den Undankbaren und Bösen erweist.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Theologie der Zukunft, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 25--31.

Der bedeutungslose Gott?

Ein Einwand gegen den von Jesus neuentdeckten Gott der bedingungslosen Liebe lautet, dass dieser Gott irgendwann irrelevant und bedeutungslos werden würde, da es ja letztlich nicht für dessen Liebe ausschlaggebend sein kann, ob man gut oder schlecht handelt. Das ist eine These, die zusammen mit Nietzsche auch von gegenwärtigen Theologen vorgetragen wird. Ohne Gericht, Strafe und Zorn könnte man den liebenden Gott bedenkenlos auf sich beruhen lassen. 

"Er ist vielmehr, wie es schon der Begriff der Bedingungslosigkeit andeutet, der Gott der größten Herausforderung, die darin besteht, in der gleißenden Sonne der bedingungslosen Liebe Gottes zu stehen. [...] 'So, wie ich dich liebe, mußt du mich lieben, aber auch alle, die Menschenantlitz tragen.'" (Mensch und Spiritualität, 105)

Nach Biser ist die Vorstellung einer göttlichen Liebe, die keine Bedingungen kennt, mitnichten ein Freibrief für willkürliches Handeln. Nur weil ein Vater sein Kind ohne weitere Vorbehalte, unabhängig von seinen Taten, liebt, muss noch nicht daraus gefolgert werden, dass es ihm egal ist, ob sein Kind gut oder schlecht handelt. Ein Gott, der alle Zwiespalte zugunsten der Liebe und Angstlosigkeit überwunden hat, fordert dazu auf, selbst in seinem Leben den Zwiespalt zwischen Angst und Befreiung, Hass und Liebe, Gewalt und Frieden zu überwinden. Die göttliche Liebe leitet dazu an, selbst an seine Mitmenschen das weiterzugeben, was man von Gott erhalten hat. Der Mensch ist damit aufgerufen, seine Selbstsucht, die Flucht vor sich selbst, seine Gebrochenheit und seine Ängste zu überwinden, um seine Möglichkeiten wahrzunehmen und sich von einer Person zu einer Persönlichkeit zu entwickeln. Dieser Prozess der Reifung versteht sich auch als Erhebung zur Gotteskindschaft.

Da aber der Mensch niemals in der Lage sein wird, annähernd das zurückgeben zu können, was er von Gott empfangen hat, hilft ihm Gott dabei. Gott schenkt sich selbst als Person Jesus Christus, der in die Herzen der Seinen auferstanden ist und dort als Helfer und Lehrer wirken kann - sofern man ihm nur den Raum dazu gibt. Wenn der Mensch erst die Verantwortung für sich selbst übernommen hat, so folgt daraus gleichzeitig, sich in verantwortlicher Weise um den Anderen, den Nächsten zu kümmern und sich für die Gesellschaft einzusetzen. Was Gott dem Menschen schenkt, fordert dazu auf, sich sozial und politisch zu engagieren.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Mensch und Spiritualität, Darmstadt 2007, 104f.

Der Begriff der Gotteskindschaft

Das Dogma über Jesus Christus, das bereits in der Frühzeit des Christentums formuliert worden ist, besagt, dass Jesus Christus gleichzeitig als wahrer Mensch und als wahrer Gott verstanden werden muss. Jedoch ist Jesus nicht bereits mit dem Bewusstsein geboren worden, dass er der einzige und wahre Sohn Gottes ist. Für Biser bedeutet die Rede vom wahren Menschen auch, dass Jesus sich wie jeder andere Mensch entwickeln muss. Dazu gehört auch die schrittweise Entwicklung seines Selbstbewusstseins, die Erkenntnis der eigenen Identität. Erst zum Zeitpunkt der Taufe, die an Jesus erst im Erwachsenenalter vollzogen wurde, hörte er die Stimme Gottes, die ihn als geliebten Sohn Gottes bezeichnete.

Aber selbst dieser göttlichen Aussage über sich selbst muss sich Jesus immer wieder vergewissern. Zuerst strömen ihm die Massen hinterher, später kommt es zum massenhaften Abfall vom Glauben an Jesus als den Sohn Gottes. Dann kann man sich schon fragen, worin denn nun die eigene Identität eigentlich besteht. So fragt auch Jesus wiederholt: "Für wen haltet ihr mich?" Petrus antwortet mit dem Bekenntnis zu Jesus als den Sohn Gottes. Die Rede von Jesus als dem Sohn Gottes kann man so verstehen, dass Jesus zu Gott in einem einzigartigen Verhältnis steht, das den Menschen am ehesten durch die Analogie der Beziehung von einem Vater zu seinem Sohn nahe gebracht werden kann.

Jesus entdeckt sich im Laufe seines eigenen Lebens schrittweise selbst. Diese Erkenntnis mündet in dem Begriff der Gottessohnschaft. Das Vorbild Jesu liegt nun darin, dass er gezeigt hat, dass es diese Möglichkeit gibt und er diesen Weg gegangen ist. Dadurch wird nun auch allen Menschen die Möglichkeit eröffnet, selbst in ein inniges Verhältnis zu Gott eintreten zu können. Das bezeichnet Biser als die Möglichkeit zur Gotteskindschaft. Wie diese Gotteskindschaft nun konkret aussehen könnte, darüber handeln auch die Gleichnisse.

"Demnach ist der Vollbegriff der Gotteskindschaft erst dann erreicht, wenn man sich von ihm erfassen und durchdringen läßt. Denn Gotteskindschaft gehört zusammen mit Freiheit und Friede zu jener Gruppe höchster Ideen, die auf einen Bewußtseinswandel hinwirken, indem sie zu sich selbst provozieren." (Gotteskindschaft, 282)

Jesus ist nicht nur ein religiöser Neugestalter, der den Gott der bedingungslosen Liebe entdeckt und zugänglich gemacht hat, sondern er revolutioniert dadurch auch ganze Lebenswelten, soziale Gefüge und auch sprachliche Welten. In den Gleichnissen wird die Gotteskindschaft vermittelt, die in ihrem Kern etwas Unaussprechliches darstellt: Jesus selbst ist das Geschenk von Gott an die Menschen. Wenn man aus diesen Gleichnissen nun Lehrsätze und Dogmen bildet, dann ignoriert man den Grund, warum Jesus überhaupt in Gleichnissen gesprochen hat. Wäre seine Botschaft in logischen und systematischen Sätzen vermittelbar, hätte der Sohn Gottes wohl in diesem Sinne auch sprechen können. Aber da der Kern seiner Botschaft etwas zunächst mystisch-Unaussprechliches ist, braucht es das Mittel der Gleichnisse.

Für Biser ist die Kernthese entscheidend, mit der auch Kierkegaard seine ganze Christologie aufbaut: Kommt her zu mir, die ihr bedrückt und beladen seid. Ich will euch aufatmen lassen (Mt 11,28, auch auf dem Sockel der Christus-Statue in der Frauenkirche zu Kopenhagen). Gotteskindschaft verhilft dem Menschen, die Möglichkeiten, die in ihm liegen, zu erkennen und in die Realität umzusetzen. Die dringlichste davon ist der Aufruf, zum Frieden in der Welt beizutragen.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Theologie der Zukunft, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 97--100.

Zur Opferrolle Jesu

Die Auffassung, der Tod Jesu am Kreuz wäre eine Art Opfer, durch das Gott mit den Menschen wieder versöhnt wird, verträgt sich nicht mit einem Gott, der eben nicht ambivalent auf Gericht, Strafe und Rache aus ist und in willkürlichen Momenten barmherzig und gnädig ist. Wenn man die Ambivalenz zugunsten einer vorbehaltlosen Liebe auflöst, braucht Gott keine blutige Versöhnungstat, auch will er gar keine Opfer allgemein, wie bereits bei Hosea steht: Liebe will ich und nicht Opfer. (Hos 6,6)

In der Zeit des Neuen Testaments war es eben selbstverständlich, dass Gott Opfer dargebracht werden müssen, es existierte ein starkes Sündenbewusstsein, das ganze Volk muss immer wieder von neuem mit Gott ausgesöhnt werden.

Im Bezug auf Jesu Tod muss aber ebenfalls gelten, was auch Kant betonte, dass kein Mensch funktionalisiert werden darf, da er stets als Selbstzweck geachtet werden muss. Kein Mensch darf als Schlachtopfer missbraucht werden, nur um etwas anderes damit zu bezwecken.

"Denn was war das für ein Gott, der durch den qualvollen Tod seines Sohnes für die ihm durch die Sündenschuld der Menschheit zugefügte Kränkung entschädigt werden mußte? Wie konnte Blut gegen Sünde verrechnet werden?" (Gotteskindschaft, 271)

Jesus selbst ist kein Hinweis zu entnehmen, dass er einen Grund wüsste, warum er sterben sollte. Der Tod gehört einfach zum Leben eines jeden Menschen dazu, er hat in diesem Sinne keine Funktion, auch nicht bei Jesus.

„Am Kreuz erschloss er den Königsweg der liebenden Immunisierung gegen das Böse und am Kreuz gewann er, wie er es im Gestus der Fußwaschung und des Brotbrechens vorweggenommen hatte, Zugang zum Herzen der Seinen, um ihnen zum rettenden, heilenden und heiligenden Lebensinhalt zu werden." (Gotteskindschaft, 272)

Im Rückkehrschluss wird aber nicht widerlegt, dass Jesus die gesamte Sündenlast der Welt auf sich genommen hat und durch die Todüberwindung dem Menschen die Lebensfurcht genommen werden konnte. Dadurch kann der Mensch aus dem Sumpf der Sünde zur Gotteskindschaft erhoben werden, allerdings nicht durch eine einzelne blutige Tat, sondern durch die gesamte Lebensleistung Jesu.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Theologie der Zukunft, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 72-74.

Zur Stellung der Moral im christlichen Glauben

Eine zu korrigierende Schieflage des Christentums liegt auch darin, dass das Hauptgewicht auf die Ethik und Moral verlegt wurde. Das geht nicht zuletzt auf Kant zurück, der alles Religiöse in den Bereich des allein durch die Vernunft Zugänglichen zu verlegen und zu reduzieren. Das führte dazu, dass sich Religion Kirche nur noch am Grad ihrer Sozialleistungen messen lassen dürften. Wenn es dabei bliebe, führte es dazu, dass erstens säkulare Bereiche die moralischen Aufgaben einer Gesellschaft übernehmen und so dem Christentum die Existenzberechtigung wegnehmen würden, wenn sich das Christentum so selbst verstehen würde, zweiten hätte irgendwann auch Nietzsche recht, als es an seiner eigenen Moral zugrunde gehen würde. Schon zu Zeiten Nietzsches vorherrschende moralische Irritationen im Chrisentum selbst sind ein erstes Anzeichen. Darunter zählt die autoritative Fremdbestimmung des Individuums.

Der Zwang zum Heil verzichtet nötigenfalls auf die einzelne Entscheidung des Individuums. Allerdings hat das Individuum die moralische Pflicht, seine eigenen Entscheidungen und Handlungen selbst zu verantworten. Biser war der tiefen Überzeugung, dass jede Art von Fremdbestimmung eigentlich nicht zum christlichen Glauben passt, da dieser auf die »Erhebung« des einzelnen Menschen und auf eine positive Veränderung der Gesellschaft aus ist. Statt Fremdbestimmung durch Institutionen und Autoritäten muss sich der Mensch selbst bestimmen können.

"Jesus hat so gut wie nie von der privaten Sünde gesprochen. Er hat sich vielmehr ostentativ auf die Seite derjenigen gestellt, die von den Zeitgenossen als die 'Zöllner und Sünder' bezeichnet und behandelt worden sind. Das sind die Menschen, die unter dem gelitten haben, was man die strukturelle Sünde zu nennen pflegt. [...] Ihm ging es um einen Bewusstseinswandel und um die Beseitigung der umlaufenden Feindbilder und Wahnvorstellungen. [...] Deshalb wollte er den Menschen ein neues Lebensziel vor Augen stellen; deshalb steht im Zentrum seiner Verkündigung die Botschaft vom kommenden Gottesreich." (Theologie der Zukunft, 123)

In diesem Sinn, also aus der Verantwortung sich selbst und seinem Nächsten gegenüber, kann das Christentum als moralische Religion verstanden werden – allerdings mit einer wichtigen Unterscheidung. Das Christentum hat so gesehen eine moralische Mission, welche vielleicht in ihrer Bedeutung noch gar nicht ans Licht gehoben wurde. Jesus wollte nicht den Menschen zum Guten bewegen durch den Erlass von Geboten und Verboten, sondern durch ein Mittel zur Immunisierung gegen das Böse verhelfen: das alles überwölbende Prinzip der Liebe. Wer liebt, kann nicht belügen, überfordern, in den Schatten drängen, sondern aus einem innersten Bedürfnis fördern und gut behandeln. Das macht den Unterschied: Das Christentum hat zwar eine Moral, es ist aber keine Moral.

Wenn man beschreiben will, was es ist, dann ist es im Kern eine mystische Religion, das bedeutet, die Neuentdeckung der Gegenwart Christi in seiner Kirche und den Gläubigen. Das setzt auch der Angstanfälligkeit des Menschen ein Ende. Erst mit der Angstüberwindung ist auch die Überwindung menschlicher Aggressivität möglich. Wird Angst überwunden, wird der christliche Glaube zu einer Religion des Friedens. Die Angst des Menschen ist in ihrem tiefen Ursprung gegenstandslos, weil der Gott Jesu Christi nicht gefürchtet werden muss, weil er nicht gefürchtet werden will. Kronzeuge für die Erfahrung des Mystischen als Wesenskern des Christentums ist für Biser der Apostel Paulus.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Theologie der Zukunft, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 122-127.

 

Zur Mystik des christlichen Glaubens

Paulus ist für Biser der Mittler zwischen den glaubensgeschichtlichen Wenden und der Neuentdeckung Gottes durch Jesus.

Die Erwartungshaltung nach Trost, Frieden und Geborgenheit ist eine Anfrage nach der Lebensleistung Jesu und damit nach der Ursache seines Todes.

Gesetzeskritik und Tempelprotest erklären den Tod nur unzulänglich. Im Vordergrund steht die Liebesunfähigkeit der Menschen. Auf den Anspruch »ich bin das Brot des Lebens« reagieren die Menschen mit einem Massenabfall. Die Bereitschaft, sich selbst aus Liebe zu geben bis zum Äußersten empörte seine Zeitgenossen.

Der Vorgang des Sterbens ist kein Geschehen zwischen dem Sterbenden und seinen Angehörigen, seiner Umwelt, den Ärzten, sondern zwischen ihm und Gott. Hier wird eine Summe des Lebens gezogen. Am Kreuz erklärt sich der Sinn seines Wollens, Handelns und seiner Existenz. So wird hier in aller Radikalität deutlich, sein Leben war ein fortgesetzter Dienst, ein Hilfs- und Liebesbeweis. Die Heilszusage und der Liebeserweis nimmt es mit dem Tod auf und nährt die Zuversicht, dass jegliche Ängste im gleichen Zug überwunden werden können.

Mit Paulus können alle Ostergeschichten auf einen Satz zurückgeführt werden: Ich habe den Herrn gesehen. Der Unterschied zwischen einem reinen Hirngespinst und dem Beginn einer weltweiten Religion liegt in der Qualität der Erfahrung. Die Erfahrung, als Paulus dem Herrn begegnet ist, konnte er nur so interpretieren, dass ihm das Geheimnis des Gottessohnes ins Herz gesprochen wurde (akustische Erfahrung), er sah das Antlitz des Auferstandenen im Glanz der Gottesherrlichkeit (visuelle Erfahrung), und er wurde von Christus in einer Weise ergriffen, dass es zu seinem Lebenswunsch wurde, mehr von Christus zu begreifen (Biser nennt das die haptische Erfahrung). Dadurch ist Paulus erst zu sich selbst gekommen – das Wesen einer mystischen Religion: man erkennt den Herrn und gleichzeitig damit sich selbst.

Auferstehung beschreibt nicht (nur) ein äußeres Ereignis, das mit den Mitteln der Physik beschreibbar oder widerlegbar wäre, sondern ein Ereignis, das im Innern des Menschen, in seinem Herzen, stattfindet.

Die Folgen werden von Paulus als befreiend empfunden. Das, was er bis jetzt als seine Identität verstanden hatte (Jude, römischer Bürger, Soldat, Christenverfolger), hat sich für ihn durch diese mystische Erfahrung nun als grundlegend falsch herausgestellt. Seine Erkenntnis aufgrund der Erfahrung des Auferstandenen war, dass die Suche nach der eigenen Identität nicht darin liegt, sich gegenüber dem Fremden und Anderen abzugrenzen, sondern in der Annahme des Fremden, die bis zur Selbsthingabe gehen kann. Diese befreiende Selbstfindung drängt dazu, nicht nur alles Fremde, sondern die Welt allgemein als befreiend und offen wahrzunehmen und in die Welt hinauszugehen. In seinen Reden versucht er nun ebenfalls, die eigene Erfahrung des Herzens weiterzugeben, also mit Worten eine innere Erschütterung seiner Zuhörer zu erreichen, die es ihnen ermöglicht, die rettende Gegenwart des Auferstandenen in ihren Herzen zu erkennen.

„Die Mystik will etwas, was über all diese Differenzen hinausgreift und die Menschen zusammenführt. Deswegen wird man davon ausgehen müssen, daß die Mystik als Gegenprinzip zur Polemik zu gelten hat. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, daß immer dann, wenn sich im Bereich des Christentums eine Ideologisierung des Glaubens durchzusetzen begann, die Mystik ausgeblendet worden ist." (Mensch und Spiritualität, 96)

Neben der Gefahr der Ausblendung der Mystik tritt noch die Gefahr der allzu großen Scheu vor der Mystik hinzu. Das ist zunächst berechtigt vor dem Hintergrund aller Unaussprechlichkeit des Wesens einer mystischen Erfahrung, die jede zwingende Aussage verhindert. Allerdings weiß die Religionsgeschichte auch, dass dort, wo das Mysterium Gottes übersteigert wird, das Gefühl der Unnahbarkeit allzuleicht umschlägt in religiöse Müdigkeit und Gleichgültigkeit. Darum ist das abendländische Denken umsomehr dazu aufgerufen, sich der mystischen Erfahrung zu nähern und sie im Kern des christlichen Glaubens zu verankern.

Das führt nicht nur dazu, sich selbst in der radikalen Hinwendung zum Auferstandenen zu erkennen, es hilft auch, die eigene Todverfallenheit zu überwinden. In diesem Sinne kann die größte aller Ängste, die Angst vor dem Tod und der eigenen Endlichkeit, geheilt werden. Wiederum schließt sich der Kreis zur therapeutischen Dimension des christlichen Glaubens. Das entspricht der Neuentdeckung Gottes durch Jesus als nicht ambivalenten, sondern bedingungslos liebenden Vater. Diese selbst wiederum mystische Erfahrung Jesu drückt sich noch radikaler als bei Paulus in seiner Selbsthingabe an seine Mitmenschen und schließlich an Gott aus. Das veranlasst ihn, den Schritt von der inneren Erfahrung nach außen zu gehen und sich an die Armen, Kranken und Schwachen zu wenden.

Lektürehinweis: Eugen Biser, Mensch und Spiritualität, Darmstadt 2007, 92-97.