Gottes erwachsene Kinder
Zur theologischen Anthropologie Eugen Bisers
Im Zentrum der Religionsphilosophie und Theologie Eugen Bisers steht der Gedanke der Gotteskindschaft. Ihm widmete der Autor seine letzte große Monographie. Wer das Gottes- und Menschenbild Eugen Bisers richtig verstehen will, wird an diesem Gedanken nicht vorbeikommen. Um ein besseres Verständnis der Rede von der Gotteskindschaft zu gewinnen, soll zunächst das in dem Begriff enthaltene Spannungsverhältnis aufgeklärt werden. Dazu beginnen wir mit der Unterscheidung zwischen den Ausdrücken „Kindschaft” und „Kindheit”.
Kindschaft und Kindheit
Wenn wir von „Kindern” im wörtlichen Sinn sprechen, meinen wir entweder Menschen eines bestimmten Alters oder Nachkommen ersten Grades. In dem einen Fall gebrauchen wir das Wort „Kind” im Sinn von „Kindheit”; in dem anderen Fall meinen wir „Kind” im Sinn von „Kindschaft”. Die Kindheit jedes Menschen beginnt mit der Geburt. Biologisch betrachtet endet die Kindheit mit der Geschlechtsreife. Juristisch gilt eine Person in Deutschland bis zur Vollendung des vierzehnten Lebensjahres als Kind. Die Phase vom Ende der Kindheit bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter bezeichnet man als „Jugend” oder „Adoleszenz”. Doch oftmals werden Jugendliche noch zu den Kindern gerechnet, so dass die Kindheit erst mit 18 Jahren endet.
Entsprechend bestimmt die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen Kinder als Menschen, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Lässt man weitere Unterscheidungen – wie die zwischen Säuglingen, Kleinkindern, Jugendlichen und Heranwachsenden – außer Acht, stehen den Kindern die Erwachsenen und der Kindheit das Erwachsenenalter gegenüber. Deshalb sind Kinder (noch) keine Erwachsenen und Erwachsene keine Kinder (mehr). Bei der Kindheit handelt es sich um einen Lebensabschnitt, der irgendwann beendet ist. Da kein Mensch von allein auf die Welt kommt und niemand ohne andere überleben kann, gehören zur Kindheit die Eltern. Jedes Kind hat eine Mutter, von der es geboren wurde. Außerdem gibt es in der Regel einen Vater, der das Kind gezeugt hat. Jeder Junge ist der Sohn seiner und jedes Mädchen die Tochter ihrer Eltern. Das Verhältnis des Sohnes und der Tochter zu Mutter und Vater bezeichnet man als „Kindschaft”. Demnach ist die Kindschaft im Unterschied zur Kindheit eine Verwandtschaftsbeziehung. Die Mutterschaft oder Vaterschaft ist nicht bloß ein biologisches, sondern zugleich ein soziales Verhältnis. Die Eltern sorgen für ihr Kind. Sie sind verantwortlich für seine Erziehung und Ausbildung. Wer bei Stiefeltern, bei Adoptiveltern oder in einer Pflegefamilie aufwächst, hat oftmals mehrere Mütter oder mehrere Väter. Je verwickelter die Beziehungen der Kindschaft im Einzelfall sind, desto schwerer verläuft oft eine Kindheit.
Anders als die Kindheit endet die Kindschaft nicht mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter. Jemand ist auch dann noch der Sohn oder die Tochter seiner Eltern, wenn er längst kein kleiner Junge und sie längst kein kleines Mädchen mehr ist. Häufig gewinnt die Kindschaft eine ganz neue Bedeutung, wenn die eigenen Eltern alt oder krank werden und der Sohn oder die Tochter sich um sie kümmern muss. Dann kehrt sich die Beziehung aus den Tagen der Kindheit um, und manchmal übernehmen die Kinder Verantwortung für die Mutter oder den Vater. Die Kindschaft bildet die Grundlage aller Verwandtschaftsverhältnisse. Wer selbst keine Kinder hat, ist nur mit den eigenen Vorfahren und deren übrigen Nachkommen verwandt. Diese biologische Verwandtschaft begründet bis heute das deutsche Erbrecht. Der Schwiegersohn oder die Schwiegertochter erhält nur solange etwas vom Erbe der Familie, wie der Partner am Leben ist und die Ehe nicht aufgelöst wurde. Dass Kinder immer auch Erben sind, wusste bereits der Apostel Paulus (vgl. Gal 4, 7; Röm 8, 17), worauf gleich einzugehen sein wird. Wer von Kindern reden hört, tut gut daran, sich zu fragen, ob damit Menschen in einem bestimmten Lebensabschnitt („Kindheit”) oder in einer bestimmten Verwandtschaftsbeziehung („Kindschaft”) gemeint sind. Das gilt auch dann, wenn der Ausdruck „Kind” nicht in einem wörtlichen Sinn, sondern in übertragener Bedeutung gebraucht wird, wie zum Beispiel bei der Rede von den Kindern Gottes. Dass Eugen Biser für sein Buch den Titel „Gotteskindschaft” wählte, enthält eine terminologische Klarstellung. Es geht ihm weniger um die Kindheit als um die Sohnschaft bzw. die Tochterschaft der Gläubigen. Dennoch spielt der Aspekt der Kindheit eine wichtige Rolle in Bisers theologischer Anthropologie. Als Jesus gegenüber seinen Jüngern das Vorbild der Kinder pries (vgl. Mt 18, 3), ging es ihm augenscheinlich nicht um Söhne oder Töchter, sondern um Jungen und Mädchen – im Unterschied zu erwachsenen Männern und Frauen.
Freiheit der Kinder Gottes
Nimmt man den Unterschied ernst, der zwischen Kindheit und Kindschaft besteht, ergeben sich für das Thema der Gotteskindschaft unterschiedliche biblische Quellen. Während die synoptischen Evangelien von der Begegnung Jesu mit den Kindern berichten, sprechen die Apostel Paulus und Johannes von den Christen als (erwachsenen) Söhnen und Töchtern Gottes.
Im Brief an die Galater vergleicht Paulus die Menschwerdung des Sohnes Gottes mit einem Freikauf, „damit wir die Sohnschaft erlangen“ (Gal 4, 5). Laut Eugen Biser handelt es sich um eines von zwei „Achsenworten“ der paulinischen Verkündigung (Biser, Gotteskindschaft: 102). Das andere ist die Rede von dem „Geist der Kindschaft“, in dem die Christen Gott „Abba, Vater“ rufen (Röm 8, 15). Die Ausführungen des Apostels sind vor dem Hintergrund der damaligen Gesellschaftsordnung und des römischen Familienrechts zu verstehen.
Anders als Paulus selbst besaßen die meisten Bewohner des römischen Reiches nicht das volle Bürgerrecht. Keine Bürger im Vollsinn waren neben allen Frauen und minderjährigen Kindern die Sklaven sowie die sogenannten Fremden (peregrini). Bei den letzteren handelte es sich um freie Männer, meist ausländischer Herkunft, die weder über Grundbesitz noch über sonstiges Vermögen verfügten. Deshalb schlossen sie sich häufig einem Patron an, auf dessen Gütern sie arbeiteten.
Die Fremden konnten in den Stand eines römischen Bürgers aufsteigen, wenn sich ein einflussreicher Fürsprecher für sie verwendete oder wenn sie sich beim Militärdienst besonders auszeichneten. Ein Sklave konnte freigelassen werden, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hatte oder wenn sein Herr starb. Ebenso kam es vor, dass der Besitzer seinen Sklaven oder der Patron einen Fremden an Kindes Statt annahm. Mit der Adoption wurde der Sohn zum Erben seines Adoptivvaters. Auf diesen Aspekt des römischen Rechts bezieht sich Paulus, wenn er schreibt: „Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott“ (Gal 4, 7). Der ursprüngliche Sitz im Leben der Rede von der Gotteskindschaft wäre folglich weniger eine innige Beziehung der Vertrautheit zwischen Vater und Sohn als das rechtliche Band familiärer Gemeinschaft. Kindschaft bedeutet die Zugehörigkeit zu dem Personalverband, in dem alle Mitglieder dem Familienvater (pater familias) als Oberhaupt unterstanden. Nach dem Tod des Vaters fiel den Kindern ein entsprechender Anteil am Besitz der Familie zu.
Ein weiterer Aspekt der Kindschaft im Sinn eines Verwandtschaftsverhältnisses, der aus der damaligen Zeit verständlich wird und auf den Paulus im Galaterbrief anspielt, ist der Übergang der Freiheitsrechte eines Bürgers vom Vater auf seine Söhne. Bezeichnenderweise steht der lateinische Ausdruck liberi sowohl für die Freien, also die Vollbürger einer Stadt, als auch für deren Kinder, das heißt die männlichen Nachkommen, insofern diese ebenfalls das Bürgerrecht besaßen. Das Gegenstück zu den liberi waren einerseits die Eltern (parentes) und andererseits die Sklaven (servi). Im Galaterbrief verbindet Paulus den Aspekt der Freiheit eines römischen Bürgers mit dem Gedanken der Freiheit der Christen vom jüdischen Gesetz. Solange die Erben noch nicht volljährig, sondern unmündige Kinder sind, unterscheiden sie sich „in keiner Hinsicht von einem Sklaven“ (Gal 4, 1). Der Satz ist eine rhetorische Überzeichnung, denn es geht Paulus natürlich nicht um die generelle Gleichsetzung von Minderjährigen und Sklaven. Entgegen dem Wortlaut hebt der Satz gerade auf diejenige Hinsicht ab, in der Kinder und Sklaven tatsächlich nicht voneinander verschieden sind. Erbt ein Sohn im Kindesalter das Vermögen seines Vaters, gilt er zwar als Herr über den Besitz, aber „er steht unter Vormundschaft und sein Erbe wird verwaltet bis zu der Zeit, die sein Vater festgesetzt hat“ (Gal 4, 2).
Zitat
„Die Gläubigen, Juden wie Christen, verstehen sich als Erben Abrahams. Bei den Juden handelt es sich um die leiblichen Nachfahren, die Kinder und die Stammeskinder. Die Christen hingegen, die nicht im biologischen Sinn von Abraham abstammen, werden zu Erben, indem Gott sie gleichsam adoptiert und als Kinder annimmt."
Der volljährig gewordene Erbe gleicht insofern einem freigelassenen Sklaven, als beide ein Recht erlangt haben und nunmehr frei ausüben können, das sie zuvor nicht besaßen. Das Motiv der Erbschaft spielt im Galaterbrief eine theologische Rolle. Die Gläubigen, Juden wie Christen, verstehen sich als Erben Abrahams. Bei den Juden handelt es sich um die leiblichen Nachfahren, die Kinder und Kindeskinder ihres Stammvaters. Die Christen hingegen, die nicht im biologischen Sinn von Abraham abstammen, werden zu Erben, indem Gott sie gleichsam adoptiert und als Kinder annimmt. Mit dem Gedanken der Gotteskindschaft durch Adoption einher geht bei Paulus die Vorstellung von zwei entgegengesetzten Weisen, wie die Nachkommen Abrahams ihr Leben führen. Entweder sie glauben nach dem Vorbild Abrahams an die von Gott ergangene Verheißung; oder sie unterwerfen sich den Vorschriften des mosaischen Gesetzes. Für Paulus stellt sich die Geschichte des jüdischen Volkes so dar, dass in der Verheißung an Abraham „nur von einem gesprochen“ wird, nämlich von Jesus Christus (Gal 3, 16). Für alle anderen musste „wegen der Übertretungen“ das Gesetz des Mose erlassen werden (Gal 3, 19). Das Gesetz sollte die Menschen vor dem Bösen bewahren, aber in den Augen des Apostels Paulus machte es sie zugleich unfrei. Deshalb schreibt er, Christus habe „uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft“ (Gal 3, 13).
Indem Paulus den Tod Jesu am Kreuz sowohl mit der Freilassung eines Sklaven als auch mit dem Antritt eines Erbes in Zusammenhang bringt, legt er den Grund für die Rede von der Gotteskindschaft. Die Christen sind gleichermaßen die wahren Nachkommen und Erben Abrahams (vgl. Gal 3, 29) wie die Söhne und Erben Gottes (vgl. Gal 4, 7). Im Römerbrief wiederholt Paulus seinen Gedanken in gedrängter Form. Einem Leben unter dem Gesetz und gemäß den Begierden des Fleisches stellt er ein Leben gegenüber, das durch den Geist Gottes bestimmt ist: „Die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes.“ (Röm 8, 14) Dank ihrer Gotteskindschaft sind die Gläubigen auch Erben (vgl. Röm 8, 17) und im Besitz der Freiheit (vgl. Röm 8, 21).
Für Eugen Biser steht die Freiheit im Mittelpunkt der Lehre von der Gotteskindschaft. Deshalb handelt es sich bei den Kindern Gottes bildlich gesprochen keinesfalls um Minderjährige, deren Eltern für ihre Kinder haften. Ein Gott, der die Menschen in Unfreiheit hält, oder eine Kirche, die ihre Gläubigen bevormundet, sind Biser zutiefst verdächtig. Wie für Paulus steht für Biser die Gesetzesfrömmigkeit im Gegensatz zur Freiheit der Kinder Gottes. Biser gelangt zu diesem Schluss dank der Beobachtung, dass ein Glaube, der unfrei macht oder in Unfreiheit hält, nur einem Gott gelten kann, vor dem die Menschen Angst haben. Meistens verstärkt diese Angst vor Gott noch die in der menschlichen Natur gelegene Angst vor den Mitmenschen und die Sorge um uns selbst. Ob die Religion zur Befreiung beiträgt, oder ob sie eher noch zur Verstärkung der Angst führt, hängt von dem Gottesbild jedes einzelnen Gläubigen ab.
Daher bestimmt der Ausdruck „Gotteskindschaft” nicht bloß das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer, sondern der Ausdruck kennzeichnet das Wesen Gottes als dem eines römischen Familienvaters vergleichbar, der das Erbe in seinem Testament sowohl den leiblichen Nachkommen als auch den im Haus lebenden Dienern und Sklaven vermacht. Sobald sie das Erbe antreten, beginnt für sie alle ein Leben in Freiheit. Die Freiheit ist theologisch betrachtet das größte Geschenk des Vaters an seine Kinder bzw. Gottes an die Menschen.
Allerdings ist die Freiheit der Kinder Gottes nicht wie ein Vermögenswert, den sich jemand irgendwann aneignet und mit dem er fortan nach Belieben verfahren kann. Durch seine Modalanthropologie erinnert Eugen Biser daran, dass in der Freiheit die Möglichkeit liegt, über sich selbst hinauszuwachsen. Zugleich wäre der Mensch nicht frei, wenn er diese Möglichkeit nicht auch verfehlen könnte. Versteht man unter der Gotteskindschaft „die Einlösung des mit dem Menschsein gegebenen, aber über seine faktische Verwirklichung hinausgreifenden Versprechens“ (Biser, Gotteskindschaft: 225), wird daraus ein Zustand, den wir noch nicht erreicht haben, sondern den wir erst für die Zukunft erhoffen dürfen. Auf diese Möglichkeiten soll nun ausführlicher eingegangen werden.

Porträt Eugen Biser
Werden wie die Kinder
Der Metapher von den Kindern Gottes war womöglich deshalb ein solcher Erfolg beschieden, weil in vielen uns bekannten Kulturen die Vorstellung vorherrscht, Kinder erfreuten sich einer besonderen Nähe zum Göttlichen. So wurden beispielsweise die Priesterinnen der römischen Göttin Vesta bereits vor ihrem zehnten Geburtstag zum Dienst im Tempel berufen, den sie danach dreißig Jahre lang ausüben mussten. In buddhistischen Klöstern sind Kinder als Mönche bis heute keine Seltenheit. Die besondere Eignung von Kindern für ein religiöses Leben dürfte unter anderem mit der Erwartung sexueller Reinheit zusammenhängen. Die von Mönchen und Nonnen im Erwachsenenalter erwartete Keuschheit ließ sich vor der Geschlechtsreife leicht einhalten. Danach sorgte die Abgeschiedenheit des Klosters für ein Leben, in dem sexuelle Kontakte die Ausnahme blieben.
Zitat
„Unschuld ist das Kind und Verges-sen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ Friedrich Nietzsche
Neben dem Gedanken der kultischen Reinheit assoziieren viele Religionen mit der Kindheit die Annahme der Unschuld und Lauterkeit. Anders als viele Erwachsene scheinen die Kinder noch keine Meister der Bosheit und Verstellung. Da die Kinder außerdem weniger Last der Verantwortung tragen, gilt ihr Leben als unbeschwerter. Ein derartiges Klischee dürfte dem bei Eugen Biser häufig zitierten Bildwort Friedrich Nietzsches von den drei Verwandlungen des Geistes zum Kamel, zum Löwen und schließlich zum Kind zugrunde liegen: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ (KSA 4, 31).
Wenn Jesus in den synoptischen Evangelien seine Jünger tadelt, weil sie die Kinder fortschicken wollen, dürfte es ihm allerdings nicht in erster Linie um Reinheit oder Unschuld gehen, sondern um die Rolle derjenigen, die in der damaligen Gesellschaft am wenigsten zählten. Aus dem Alten Testament ist die Verantwortung geläufig, die Israel gegenüber den Armen, den Fremden sowie den Witwen und Waisen in seiner Mitte hatte. Da sie nur bedingt für sich selbst sorgen konnten, waren sie auf die Hilfe anderer angewiesen. Zum Selbstverständnis der jüdischen Religion gehörte, dass die Gemeinschaft dem Willen Gottes entsprach, indem sie die Schwachen schützte. Einen vergleichbaren Schutz scheint Jesus von seinen Jüngern für die Kinder zu fordern. Er stellte sich „mit Nachdruck auf die Seite der von der antiken Gesellschaft weithin vernachlässigten Kinder“ und legte durch sein Verhalten den Grund „für die vom Christentum praktizierte Aufwertung und Betreuung der Kinder“ (Biser, Gotteskindschaft: 12 f.).
Mit den Kindern rückt Jesus eine Gruppe von Menschen in den Mittelpunkt, die sonst leicht übersehen werden. Zugleich macht er die Kinder zum Maßstab des Eintritts in die Gemeinschaft mit Gott: „Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ (Mk 10,15) Aus den in der Gesellschaft und von den Jüngern Benachteiligten werden mit einem Mal die Vorbilder des Vertrauens auf Gott. Deshalb kann Jesus zu seinen Jüngern, die sich um Rang und Ansehen streiten, sagen: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ (Mt 18, 3) Zu werden wie die Kinder, bedeutet weder das Regredieren zu einem Alter, das jemand längst hinter sich gelassen hat, noch das Stehenbleiben bei einem Verhalten, das sonst nur Unmündige an den Tag legen. Für Eugen Biser hängt die Gotteskindschaft nicht in erster Linie an einer Veränderung, die an den Gläubigen vor sich ginge und die sie selbst bewerkstelligen müssten. Vielmehr ist die Gotteskindschaft aller Menschen eine Folge der Menschwerdung des Sohnes Gottes
Zitat
Als Kinder Gottes bezeichnet Johannes Menschen, die „nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1, 12–13).
So heißt es im Prolog des Johannesevangeliums von dem göttlichen Wort, dass allen, die es bei sich aufnahmen, die Macht gegeben wurde, „Kinder Gottes zu werden“. Als Kinder Gottes bezeichnet Johannes Menschen, die „nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1, 12–13). Mit der Gotteskindschaft ist folglich eine zusätzliche Art himmlischer Abstammung neben der irdischen Kindschaft gemeint. Der Evangelist spricht auch von einer Wiedergeburt des Menschen von oben (vgl. Joh 3, 3). So wenig wie die erste verdanken wir diese zweite Geburt einfach uns selbst. Deshalb hat die Gotteskindschaft für Biser weniger mit einer bewussten Wahl oder Entscheidung für den Glauben als mit der Einsicht in die Erwählung durch Gott zu tun.
Eugen Biser warnt vor dem Missverständnis, als Kinder Gottes würden wir zu etwas, das wir zuvor noch nicht waren. In Anspielung auf Nietzsches Bild von dem Kind als einem aus sich rollenden Rad beschreibt Biser die Kindschaft als eine Kreisbewegung, nämlich „die Rück- und Einkehr in den Anfang, der bereits alles enthält, in dieser Fülle jedoch erst im Rückbezug begriffen werden kann (Biser, Gotteskindschaft: 15). So sehr man dieser Beschreibung auf der einen Seite wird beipflichten wollen, so wenig darf die Gotteskindschaft mit Stillstand verwechselt werden. Beinahe legendär sind die Dynamik und der Optimismus, mit denen Biser zeitlebens als Hochschullehrer, Vortragsreisender und Prediger unterwegs war. Seine Bibliographie umfasste bis zu seinem Tod etwa 1.400 Titel. Dennoch gilt auch für den Denkweg Bisers, dass er auf die zentralen Motive seiner Theologie immer wieder zurückkam.
Daran wird anschaulich, was Eugen Biser mit den Kindern Gottes meinte: eine gläubige Lebenshaltung, für die wir nicht irgendwann zu alt sind; die Bereitschaft, selbst nachzudenken und Verantwortung zu übernehmen, ohne andere zu bevormunden oder sich entmündigen zu lassen; die Treue zur Botschaft des Evangeliums, dass Gott der liebende Vater aller Menschen ist. „Mit der Gotteskindschaft ist einem utopischen Begriff vom Menschen das Wort geredet, der ihn nicht in seiner faktischen Verfassung begreift, sondern ihn auf seine höchsten, nur noch religiös zu begründenden Möglichkeiten hin anvisiert.“ (Biser, Gotteskindschaft: 49)
Georg Sans SJ, Inhaber des Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhls